Bierbänke, Gartenstühle, Zeichenhocker – das Atelier von Barbara Yelin in der Münchner Au hat sich in einen Salon verwandelt und ist an diesem Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Es ist der Auftakt der neuen Lesungsreihe „Talking Heads“, bei der etablierte Comic-Schaffende jeweils zwei Neulinge in ihre privaten Arbeitsräume zum Gespräch einladen. Barbara Yelin macht den Anfang und präsentiert die gerade fertiggestellten Comics von Twyla Dawn Weixl und Jeff Chi.
Zur Begrüßung spricht Elisabeth Donoughue vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, das die Lesungsreihe unterstützt. Die freie Kunstszene sei durch die Corona-Zeit schwer gebeutelt, sagt sie, daher stelle das Ministerium eigens Geld für neue Formate wie Austausch- und Arbeitstreffen zur Verfügung. „Es geht uns um Stärkung und Sichtbarmachung. Wir versuchen, den Comic zu fördern, wo es geht.“ Die Geschichten, die an diesem Abend vorgestellt werden, erzählten von Selbstbefreiung und Selbstermächtigung. Ohne diese Geschichten ginge viel verloren, sagt Donoughue und erklärt in Abwandlung eines Zitats von Pina Bausch: „Zeichnet, zeichnet – sonst sind wir verloren!“
Die Kanadierin Twyla Dawn Weixl lebt seit 43 Jahren in München, sie hat erst im Filmbusiness und dann als Englischlehrerin gearbeitet. Schon in ihrer Jugend hat sie geschrieben, doch erst vor sechs Jahren begann sie, Comics zu zeichnen. Den Anstoß gab die Frage: „Wozu bin ich eigentlich da? Wofür ackert man ein Leben lang, wenn nicht, um eine Geschichte sichtbar zu machen, die in einem brennt.“
Die Geschichte, von der ihr Comic handelt, ist von ihrer eigenen Kindheit inspiriert. Ihre Hauptfigur Dory ist ein „Fighter Brat”, die Tochter eines Kampfpiloten. Sie lebt mit ihrer Familie auf einer Air Force Base im Kanada der fünfziger Jahre und träumt davon, selbst Pilotin zu werden und die westliche Welt im Kalten Krieg zu verteidigen. Doch nicht nur die Weltlage droht zu eskalieren, auch Dorys Konflikte spitzen sich zu, als ihr Freiheitswille auf eine rigide Männerwelt prallt.
„In den fünfziger, sechziger Jahren waren Frauen hauptsächlich dekorativ und nützlich – und Mädchen waren unterste Kategorie“, sagt Twyla Dawn Weixl. Alles drehte sich um den Vater, der bedingungslose Loyalität erwartete und der kleinen Tochter bestenfalls seine Stiefel zum Putzen überließ. Der Job des Kampfpiloten ging immer vor, die Familie zog zwanzig Mal um. „Die Starfighter waren jeden Tag präsent, lärmend am Himmel, als Kind erschien mir das sehr attraktiv, aber ich durfte natürlich nicht mitmachen. Wir Kinder waren immer am Rand, es wurde viel verheimlicht, und wir versuchten ständig, die Signale der Eltern zu lesen.“
Ihren Arbeitsprozess beschreibt Twyla als „absolut analog, old school“. Sie zeichnet zunächst mit Bleistift, dann mit blauem Buntstift und Tinte. Auf einem dritten transparenten Blatt folgt die Schrift. Comiczeichnen ist mühsam und dauert lange. „Mit Geld hat das überhaupt nichts zu tun, diese Arbeit ist absolut unbezahlbar.“ Sie habe auch erst lernen müssen, wie Comics funktionieren, zum Beispiel wie wichtig Reduktion sei. „Streich die Wörter, steck sie in die Bilder“, sei ihr immer wieder eingebläut worden.
Der autofiktionale Comic ist als Trilogie geplant, den ersten Teil wollte Twyla unbedingt ihrer Mutter schenken. Als sich der Tod der Mutter ankündigte, stand sie zeitweise um drei Uhr nachts auf und zeichnete bis abends um zehn Uhr. Die Mutter starb nicht, aber Twyla brauchte danach erst mal drei Monate Pause. „Ich mache das, weil ich es nicht lassen kann“, sagt sie, „and because I´m crazy.“
Der Nürnberger Jeff Chi ist schon lange in der Comic-Szene aktiv. Als Netzwerker, als Initiator von Comic-Projekten und aktives Mitglied der Comic Solidarity. Jahrelang betrieb er den autobiografischen Comic-Blog „Spinken“. Jeff Chi: „Den habe ich jetzt abgeschaltet, weil da meine ganze Pubertät drinsteckt. Das muss nicht mehr für alle sichtbar sein.“
„Who’s the Scatman?” (Zwerchfell Verlag) ist seine erste Graphic Novel. Und es ist die erste Biografie über den Eurodance-Superstar Scatman John, dem in den neunziger Jahren ein One-Hit-Wonder gelang. Jeff Chi webt in seinem Buch verschiedene Erzählstränge und unterschiedliche Zeitebenen virtuos ineinander. Er erzählt das Leben des Musikers, dem der Durchbruch erst mit Mitte 50 gelang und der dabei für viele Stotterer auf der ganzen Welt zum Vorbild wurde.
Jeff Chi, der schon lange als Web-Entwickler arbeitet, hatte die Idee zum Comic während seines Design-Studiums. Die ersten beiden Kapitel hat er schließlich als Bachelor-Arbeit eingereicht, danach dauerte es noch einige Jahre bis zur Fertigstellung. „Ich weiß nicht, ob ich es ohne den Kickstarter des Studiums geschafft hätte. Auch die Corona-Jahre waren gewissermaßen eine glückliche Fügung.“ Hauptberuflich Comiczeichner zu sein, kann Jeff Chi sich nicht vorstellen. Sein Brotberuf mache ihm schließlich auch Spaß, dort verdiene man in einem Monat so viel wie ein Comic insgesamt einbringe. Und mit Familie sei das gar nicht möglich.
Allein für die Recherchen brauchte er ein halbes Jahr. Er führte Interviews mit Zeitzeugen und suchte nach Originalquellen. Daraus entstand ein 50- bis 60seitiges Drehbuch. Anschließend zeichnete er die Geschichte in Thumbnails, winzige Vorschaubilder mit dem ungefähren Seitenaufbau. „Das ist der mystische Teil der Arbeit. Der Comic ist dann eigentlich fertig, es kann ihn nur noch keiner lesen.“ Schließlich fertigte er die Vorzeichnungen an, die er auf dem Leuchttisch durchpauste und mit Bleistift ins Reine zeichnete. „Das ist dann nur noch Fleißarbeit – reine Schikane hinten raus.“ Er zeigt ein Foto mit ein paar Dutzend Bleistiftstummeln – „und das sind längst nicht alle“. Die Sprechblasen fügte er einzeln hinzu. Der Comic war ursprünglich in schwarz-weiß angelegt, zuletzt hat er sich dann doch für Farbe entschieden.
Auf den ersten Blick verbindet die beiden Comics wenig. Doch beim genaueren Lesen fiel der Gastgeberin und Moderatorin Barbara Yelin auf, dass es viele Gemeinsamkeiten gibt:
– Beide Comics spielen in derselben Zeit.
– Sie erzählen biografische Lebensgeschichten.
– Es geht um Sprache und Bilingualität.
– Ein übermächtiger Vater übt Druck aus.
– Erzählt wird von Menschen, die viel unterwegs sind.
– Beide Protagonisten sind Außenseiter, die sich befreien wollen.
– Und beide wollen hoch hinaus – als Pilotin oder als Superstar.
Barbara Yelin wirft die Frage in die Runde: „Was hat Euch bei der Arbeit geholfen? Und was könnte uns allen helfen, damit sich unsere Arbeitsbedingungen verbessern?“
Twyla: „Ernst genommen zu werden, Förderungen wie die durch das Ministerium, Zeichengruppen, Aktzeichnen und gemeinsames Schreiben, Mentoren, Vernetzung“
Jeff: „Geld, Publikum, gut platzierte Veranstaltungen, Leser und Leserinnen“
Das Publikum: „Studiengänge an Hochschulen, die sich mit Comic befassen, allgemein mehr Comic-Kultur in Deutschland so wie in Frankreich, Treffen auf Comicfestivals, gemeinsames Essen und Zeichnen“.
Die Künstler*innen, das Comic-Bayern-Team und die Vertreterinnen des Kunstministeriums (von links nach rechts): Jeff Chi und Twyla Weixl (vorne), Anna Fuchs, Dominik Wendland, Elisabeth Donoughue, Jutta Pilgram, Katharina Fischer, Barbara Yelin und Ulrike Bührlen (hinten):