So, 12. Mai 2024
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Ein Abend mit Amelie Lihl und Niki Smith

Rückblick: Zweite „Talking Heads“-Lesung im Atelier von Dominik Wendland am 16. November 2022 in München - mit Musik von Giovanni Raabe

Publikum im Atelierhaus in der Baumstraße. © Verena Haegler

Dominik Wendland hat zur Werkstattlesung in sein Atelier in der Baumstraße eingeladen. Die großen Industriefenster zeigen in den dunklen Hinterhof, die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Westermühlstraße sehen aus wie die Türchen eines Adventkalenders. Es ist die zweite Folge der Lesungsreihe „Talking Heads“. Mehr als 30 Menschen sind gekommen, um Arbeiten von Amelie Lihl und Niki Smith zu sehen und um sich auszutauschen. Giovanni Raabe, Illustrator und Musiker, schafft dazu die passende Soundkulisse, die zwischen Ambient, IDM und experimenteller Elektronik changiert.

Comics mit Livemusik: Giovanni Raabe legt auf. © Jutta Pilgram

Die Münchner Illustratorin und Comiczeichnerin Amelie Lihl zeigt zuerst ihr achtseitiges Zine „Frühling“. Es beginnt mit einer nüchternen Definition („Der Frühling oder Lenz, auch Frühjahr genannt, ist eine der vier Jahreszeiten…“), dann illustrieren weitere Seiten Begriffe wie „Frühlingsgefühle“ oder „Frühjahrsmüdigkeit“. Amelie erklärt, wie ihre assoziative Arbeitsweise funktioniert. So entstand beispielsweise aus einem Instagram-Post eines fiktiven Buchcovers eher zufällig die grafische Erzählung „Die Ornithologin“. Per Google Bildsuche forschte sie weiter nach Ornithologen, nach Vogelarten und stieß schließlich auf die Wildgänse der Geschichte „Nils Holgersson”, die sie zu ornamentalen Zeichnungen inspirierten.

Amelie Lihl bei ihrer Präsentation. © Verena Haegler

Die Geschichte der Ornithologin dreht sich um eine Vogelbeobachterin, die abgeschieden in einer Hütte am Waldrand lebt. Auf ihren Streifzügen durch die sie umgebenden Landschaften verbinden sich Naturbeobachtungen mit ihren Lebenserfahrungen und zeigen Konflikte zwischen Verbundenheit und Unabhängigkeit. Dabei geht es letztlich um die Frage, wie viel Selbstbestimmung möglich ist und wann Beobachtung aufhört und Verstecken beginnt. Die Panelstruktur ist meistens aufgelöst, der Text findet sich nicht unter dem Bild, sondern wird nur dazu gesprochen. Manche Details und Schriftarten erinnern an Jugendstil, anderes an Oskar Schlemmers Triadisches Ballet. Das sei keine bewusste Entscheidung gewesen, sagt Amelie, eher Intuition.

Zuhören, hinschauen und mitrechnen. © Verena Haegler

Dominik Wendland fragt, warum sie häufig Texte aus Wikipedia übernimmt. Ist es der Open-Source-Gedanke, der sie daran interessiert? Amelie erklärt, dass es auch eine Art Vermeidungsstrategie ist. „Ich trau mich nicht, so viel Text zu benutzen, weil ich mich da angreifbar mache. Also nehme ich Wikipedia-Texte, auch wenn das oft absurd wirkt.“ Sie habe sich teilweise gezwungen, Text zum Bild hinzuzufügen. Bei ihren Zeichnungen fühle sie sich selten angreifbar, bei Texten viel eher. Mit offensichtlich absurden Texten umgehe sie das Problem.

Szene aus dem Comic "Die Ornithologin" von Amelie Lidl. © Verena Haegler

Viele ihrer Arbeiten beschäftigen sich mit der Neuinterpretation gefundener Texte, die durch die Zeichnung in andere Kontexte gesetzt werden und so zu eigenen Geschichten werden. „Am Anfang will ich immer große Geschichten erzählen über Kapitalismus und Feminismus. Aber dann kann ich nicht genau sagen, wohin ich will, sondern nur, was ich herausfinden will.“ Sie wolle leise Geschichten erzählen und sei auch als Person nicht so laut. Sie kenne den Wunsch, möglichst unsichtbar zu sein, nicht bewertet zu werden, nur alles aufzuschreiben. Gleichzeitig wolle sie keine passiven Frauenrollen beschreiben. „Sehen, ohne gesehen werden“, heißt eine weitere ihrer narrativen Zeichnungen. „Jede Bewegung ein Risiko – und am Ende gewinnt immer die Schwerkraft.”

Niki Smith bei ihrem Vortrag. © Verena Haegler

Angefangen hat Niki Smith mit erotischen queeren Comics, inzwischen zeichnet sie hauptsächlich Comics für Teenager. Die US-amerikanische Künstlerin, die jetzt in München lebt, stammt aus dem Mittleren Westen der USA. Dort spielt auch ihr neuestes Buch „The Golden Hour“. Es wurde unter anderem von der amerikanischen Literaturfachzeitschrift Kirkus und der New York Public Library als bestes Buch 2021 ausgezeichnet.

Niki liest die ersten Seiten des Comics, der von Selbstfindung, Freundschaft und Heilung eines Traumas handelt. Der Protagonist Manuel Soto kämpft mit Panikattacken, nachdem er Zeuge einer Schießerei an seiner Schule wurde. Bei einem Kunstprojekt findet er Freunde und erkennt, dass ihm die Fotografie bei der Bewältigung seiner Ängste hilft. Die Handykamera ist der Anker, der ihn auf dem Boden der Tatsachen hält.

Auf dem Büchertisch: Comics von Niki Smith. © Verena Haegler

Die Graphic Novel erzählt diese Geschichte sehr ruhig. Dominik Wendland schildert, wie das klassische Fünf-Akt-Schema des Comics bei ihm eine Erwartungshaltung auslöste: „Im vierten Akt dachte ich, jetzt müssen sie doch noch alle sterben!“ Normalerweise werde irgendwann in einer Story mit Schwertern herumgefuchtelt. Doch statt einer Schwertfuchtelei erzählt der Comic eine langsame Heilungsgeschichte. Das Motiv des Haltens und Bewahrens (in diesem Fall der „reality anchor“ durch die Fotos) sei viel seltener als Plot einer Geschichte als eine Kampfhandlung. Die auslösende Gewaltszene hat Niki bewusst nicht in ihrem Comic abgebildet, sie wird nur in Manuels Flashbacks angedeutet.

Niki Smith beantwortet Fragen aus dem Publikum. © Verena Haegler

Welche persönlichen Bezüge hat der Comic? Eine Parallele zu ihrem Leben ist sei das Aufwachsen im US-Bundesstaat Kansas, sagt Niki. Manche Szenen, die im Kunstraum der Schule spielen, erinnerten sie an ihre eigene Schulzeit, als es noch nicht so viel Angst vor Waffengewalt gab und Schüler nicht alle paar Monate zu Notfallübungen angehalten wurden. Inspiriert sei der Comic außerdem durch Erlebnisse mit einer ihrer besten Freundinnen, die auf einer Farm aufwuchs.

Auffallend an ihren Comics sind die ausgefeilten Perspektiven. Filmische Sichtweisen (vor allem gut erkennbar in dem vorherigen Fantasy-Comic „The Deep and Dark Blue“) sind dabei typisch für Nikis Arbeit. Komposition habe sie in Fotografie-Kursen gelernt, erzählt sie, lange bevor sie mit dem Comic-Zeichnen begann.

Gebannte Zuhörerschaft. © Verena Haegler

Das Gespräch dreht sich schließlich um ihre Arbeitsweise: Wie lange dauert die Arbeit an so einem Comic? Von der ersten Idee bis zum Beginn der Arbeit vergingen oft Jahre, meint Niki. Wenn sie beschließt, eine Geschichte umzusetzen, schlägt sie das Thema ihrer amerikanischen Agentin vor. Vom ersten Pitch bis zum Abschluss der Schreibens und Zeichnens dauere es gewöhnlich ein Jahr. Dann verstreicht noch einmal fast ein Jahr, bis das Buch schließlich im Buchladen liegt. Bisher sind ihre Comics immer in amerikanischen Verlagen erschienen, nur „The Golden Hour” gibt es jetzt auch auf Französisch.